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Ute Bales

Autorin im Rhein-Mosel-Verlag

Vom letzten Tag ein Stück

 

1.

Wenn ich die Augen schließe, ist alles wieder da: unser Berg, der Ginster, die Schlehenhecken, der Hühnervogel, der anderswo Mäusebussard heißt.

Auch Bertram ist wieder da. Er läuft mir entgegen, über die Felder, mit wehenden Haaren und geröteten Wangen. Er lacht und winkt. Ich will ihm folgen, da sehe ich das halbe Dorf herannahen, höre das Getrappel ungezählter Schuhe auf der Straße nach Norden, immer nach Norden.
Bepackt mit Koffern und Taschen eilen Männer und Frauen, Alte und Kinder in Richtung des Berges. Ein Auto überholt mich, wirbelt Staub auf, fegt mich zur Seite. »Weiter, weiter!«, schreit jemand, stößt mich mit seinem Koffer in die Rippen und, bemüht, Bertrams tanzende Mütze im Blick zu behalten, lasse ich mich mitreißen, laufe den anderen hinterher, denn die anderen, die werden schon wissen, wo es hingeht. Sie stoßen und schieben mich; ich werde Teil dieser Menge, die sich lockert und wieder dichter wird, keuchend und kommandierend, wogende Köpfe und Schultern, ein Wirbel von Beinen, stampfend und fordernd, unterwegs entlang der schmutzigen Ackerränder, hinauf auf den Gipfel.
Oben auf dem Kamm stehen wir dicht an dicht, außer Atem, und starren, die Hände über den Augen, in den Himmel, der sich zuzieht. Der Horizont glimmt rot und drohend hinter einer Wand aus Wolken. Die Wolken sind fast schwarz und lassen hier und da weißes Licht durch, das anders ist als Nebel, feiner und wärmer. Jetzt erst fällt mir auf, dass auch die Tiere da sind. Hühner und Schweine, Kühe, auch Truthähne. Die Tiere sind unruhig. Es wird bald regnen, ich kann es spüren, die Luft hat sich verändert.
Bertram steht neben mir mit seinem Feldstecher und hat schon ein ganz schiefes Gesicht vom Schauen durch das Rohr. Ich frage ihn, was er sieht, aber er reguliert nur hektisch die drehbaren Linsen seines Glases und richtet den Blick weiterhin nach oben. Ich entdecke meine Tante und winke ihr. Sie trägt ein Tuch aus Spinnweben um den Kopf und kramt in ihrer Tasche. Dann schwenkt sie eine Tafel Schokolade und ruft: »Fang auf! Fang doch!«, aber ich kann nicht zu ihr, zu viele Leute sind es und die Tante ruft und lacht und schwenkt die Schokolade und ihre weißen Zähne blitzen.

»Am Jüngsten Tag treffen wir uns oben auf dem Berg«, sagte mein Vater und seine Worte machten Mut. »Niemand braucht Angst zu haben, wenn die Erde bebt, der Himmel bricht, die Gräber umgedreht, die Seen ausgegossen werden und die anderen Berge wie Wollbüschel davonfliegen. Wir werden alle zusammenstehen. Dicht beieinander. Auch die Tiere werden dort sein. Pferde und Kühe, sogar die Hühner. Oben auf dem Kamm werden wir stehen und uns bereithalten für den allerletzten Tag. Und für die Nacht ohne Morgen.« Das sagte mein Vater und ich konnte nicht aufhören, mir vorzustellen, was dann kommen würde.

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