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Ute Bales

Autorin im Rhein-Mosel-Verlag

Im Treibsand

Eine Rezension von Klaus Hansen

 

 

Im Treibsand

Zu Ute Bales‘ neuem Roman „Am Kornsand“

Von Klaus Hansen

 

Der Sachverhalt
Am 21. März 1945 erschießt der aus Mayen in der Eifel stammende Hans Kaiser, 18 Jahre jung und doch schon Leutnant der Wehrmacht, auf der Gemarkung Am Kornsand, die auf der rechten Rheinseite gegenüber dem pfälzischen Oppenheim liegt, 6 Zivilisten auf Befehl seiner Vorgesetzten. Die fünf ermordeten Männer werden bezichtigt Fahnenflüchtige und Kommunisten zu sein; die ermordete Frau sei eine Jüdin gewesen. Die Tat geschieht, während auf der anderen Rheinseite die amerikanische Armee dabei ist, den Fluss zu überqueren, also am Vorabend der totalen Kapitulation und dem Verschwinden des Deutschen Reiches von der politischen Landkarte.
Der minderjährige Täter wird 1949 zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Presse berichtet. Die Öffentlichkeit nimmt Notiz. Das Leben geht weiter, auch für Hans Kaiser, der bald zur Außenarbeit eingesetzt und 1955 begnadigt wird. Dann holt er das Abitur nach und steigt zu einem wohlhabenden Geschäftsmann auf. Er gründet eine Familie. Ehefrau und Kinder, insbesondere Tochter Helga, neben Hans Kaiser die zweite Protagonistin des Romans, wissen von der Vergangenheit des Ehemanns und Vaters nichts, bis die Zeitschrift „Stern“ anlässlich des 40. Jahrestags des Verbrechens, 1985, ein Thema daraus macht.

 

Die Hauptfiguren
Tochter Helga ist ein schmächtiges, neurodermitisch geplagtes Kind, das sich in seiner ewig juckenden Haut nicht wohlfühlt. In den 1970er Jahren befindet sie sich in dem Alter, in dem ihr Vater in den 1930er Jahren war. Sie wird zur Erholung an die gute Nordseeluft geschickt und erlebt im Erholungsheim auf Föhr die Hölle der schwarzen Pädagogik. „Hinsetzen. Mund halten. Aufessen.“ Gehorchte man nicht, setzte es sadistische Strafen. Und das mitten in der antiautoritären 68er-Zeit! Sie kehrt nach vielen Wochen in Kur als deprimiertes Kind nach Hause zurück. Ihre Haut juckt, wie immer; sie kratzt sich blutig, wie immer. Helga ist nervös und schreckhaft. Das Irgendwie-Gefühl, nicht am rechten Platz zu sein, nagt an ihr
Vater Hans erlebt in den 30er Jahren eine nicht minder schwarze Pädagogik bei seiner Erziehung zum Pimpf, HJ-Führer und später zum Wehrmachtssoldaten. Aber er genießt die autoritäre Hand, unterstellt sich gern den Befehlen, liebt es hart rangenommen zu werden und ist überzeugt, dass Schmerz und Leid ihn stählen, um im Kampf für Volk, Vaterland und Führer seinen Mann zu stehen. Früh wohnt er standrechtlichen Erschießungen von „Volksschädlingen“ bei; sie werden zum Teil des Tagesgeschäfts.

 

Das Medieninteresse
Die Zeitschrift „Stern“ macht aus Anlass des runden Jahrestages der „Kornsandmorde“, wie sie nun heißen, die Taten des Vaters ein zweites Mal öffentlich. Für die Familie ist es das erste Mal. Namentlich Tochter Helga glaubt nun den Schlüssel gefunden zu haben für ihr tiefes Unwohlsein in ihrer Haut und in der Welt: Das Schweigen des Vaters. Warum hat sie von alledem nichts gewusst? Zwanzig Jahre mit einem Mörder an einem Tisch und keinen blassen Schimmer! Man hat zu Hause durchaus über die Kriegszeit geredet, besonders, wenn Besuch kam, aber dann in der Hauptsache über die erfrorenen Zehen von Onkel Friedhelm im Kessel von Stalingrad. Helga ahnt Böses: Zwar hat Vater seine Strafe abgesessen, aber dass er sie verdient hat, glaubt er bis heute nicht. Er hat nur auf Befehl gehandelt. Hätte er es nicht getan, hätte es ein anderer gemacht und ihn gleich mit erschossen. - Der „Stern“-Artikel macht 40 Jahre später nichts besser. Die Tochter, inzwischen antifaschistisch engagiert und friedensbewegt, aber immer noch mit aufgekratzter Haut, kommt mit dem Vater nicht ins Gespräch.

 

Soziale Vererbung
Hans Kaiser hatte gehofft, dass mit der Zeit Gras über die Sache wächst. „Was lange her ist, ist nicht einmal mehr halb wahr“, sagt er, und wir hören die unausgesprochene Fortsetzung: „Und was noch länger her ist, ist nicht geschehen.“ Ute Bales hält es dagegen mit William Faulkner und Christa Wolf: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“
Wenn Schuld nicht eingestanden und eingesehen, sondern verdrängt wird, müssen auch Kinder und Kindeskinder darunter leiden. Die uneingestandene erste Schuld gebiert eine zweite Schuld und neue Opfer.
Gerade im ersten Jahrzehnt der neuen Bundesrepublik war diese Art der Verdrängung aber auch eine enorme Energiequelle: Man stürzte sich mit allem, was man hatte, in Wiederaufbau und „Wirtschaftswunder“, um guten Gewissens vergessen zu können.
Der Roman ist auch eine Beschreibung des psychologischen Vorgangs der „transgenerationellen Weitergabe“ der Folgen von unabgetragener Schuld. In dieser Funktion ist er eine belletristische, das heißt veranschaulichende Ergänzung der Fachliteratur über die soziale Vererbung von Traumata.

 

Die Tochter: Opfer der zweiten Schuld des Vaters
In ihren Alpträumen begegnet Helga immer wieder einem Mann, der mit Schlägeln aus Knochen auf dem „hölzernen Gelächter“ spielt, wie das Xylophon im Volksmund heißt. Er trifft keinen Ton richtig und richtet ein fürchterliches Charivari an. Man stellt sich einen herumgeisternden Alträucher und Abdecker vor: „Knochen, Lumpen und Papier, ausgeschlagene Zähne sammeln wir". Helga selbst fühlt sich als Abdeckerin ihrer selbst. Sie schält sich die juckende Pelle vom Leib. Oh Haut voll Blut und Wunden, möchte man in der Karfreitagssprache klagen. – Ist der Knochenjupp mit seiner Katzenmusik eine Allegorie des Vaters?
Das Beschweigen der eigenen Taten richtet sich auch gegen den Schweigenden. Er wird hartherzig und streng. Helga erinnert sich nicht, je auf dem Schoß des Vaters gesessen zu haben. Hat er sie auch nur einmal in den Arm genommen? Andererseits konnte Vati über alle Maßen großzügig sein, wenn es um Dinge ging, die sich mit Geld kaufen ließen. Ablasshandel? - Verdrängung und Kaufkraft gingen in der jungen Wohlstandsgesellschaft eine seltsame Verbindung ein.

 

Die Menschlichkeit der Unmenschlichkeit
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, so lautete die Anklage gegen Hans Kaiser 1948.
Ute Bales rückt die Menschlichkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Mittelpunkt. Das hat sie schon im Vorgänger-Roman „Bitten der Vögel im Winter“ (2018) getan.
Die Täter, die Barbaren, das sind, bei allem, was sie getan haben, Menschen wie du und ich und keine Aliens. Man spürt, dass die 1961 in der Eifel geborene Autorin sich lieber nicht vorstellen möchte, was aus ihr geworden wäre, wenn sie 1926, wie Hans Kaiser, auf die deutsche Welt gekommen wäre. Wo soll der innere Kompass herkommen, der dir sagt, dass du nicht töten darfst, wenn dir durch paramilitärische Früherziehung das Gegenteil eingepflanzt worden ist?
Der Mensch als das „nicht festgestellte Wesen“ (Helmuth Plessner) ist ein schwaches, weil alloplastisches Wesen. Das macht ihn schutzbedürftig. Man hüte sich vor Einflüssen, die auf unsere Schwächen zielen, um uns einzureden, wir seien die Stärksten und Größten. Diesen Einflüssen widerstehen wir nicht. Wir lassen uns treiben, getrieben von der schönen Illusion, und schwimmen mit dem Strom. Dagegen zu sein, gegen den Strom zu schwimmen, das schaffen die wenigsten, auch wenn die meisten sich einbilden, sie könnten es im Falle des Falles doch. Also meide das Wasser, wenn du doch weißt, dass du eine Schwäche zum Treibgut hast! - Eine implizite Botschaft des Romans.

 

Sachliches Mitleid
Darf man mit Tätern Mitleid haben? Man sollte!
Nicht, um die Taten zu entschuldigen, sondern um Zugang zum Täter zu finden und zu verhindern, dass er durch starrsinniges Abblocken und Bagatellisieren weitere Opfer macht, vor allem unter seinen Nächsten.
Sartre hat einmal geschrieben, jeder könne aus dem, was man aus ihm gemacht hat, etwas machen. Das gilt auch für einen politisch motivierten Sechsfachmörder von 18 Jahren. Aber vielleicht kann er es nicht aus eigener Kraft.
Die Sprache des Täter-Mitleids, die Ute Bales pflegt, scheint dem Grundsatz Rudolf Augsteins zu folgen: „Schreiben, was ist!“ ist. Auflisten, protokollieren, festhalten. Die Verhältnisse im Krieg sind mitleiderregend genug. Keine Gefühlsschwurbeleien, keine belehrenden Wertungen, keine Besserwisserei aus sicherer Entfernung. Der Verdacht, das Mitleid mit Sympathie verwechselt werden könnte, kommt gar nicht erst auf. Das Buch ist im Ton einer Empathie gehalten, die am Menschsein interessiert ist. Die Conditio humana ist sein Thema.

 

Vergangenheitsbewältigung
An einer Stelle des Romans heißt es: Die Ehefrau will keinen Mann, der ein Mörder ist. Die Tochter will keinen Vater, der ein Mörder ist. Und der Mörder selbst will kein Mörder sein. – Drei Personen und zwei Generationen wollen nur eines, warum kommen sie nicht überein?
Hans Kaiser hat die Strafe für seine Taten zwar verbüßt, aber die Taten nicht „verarbeitet“. Kann man ihm dabei helfen? Auch helfen, dass er sich helfen lässt? Seine wiederholt geäußerte Aufforderung, nicht länger nach hinten zu schauen, sondern die Augen nach vorne zu richten, enthält für den, der zu hören weiß, nicht nur feigen Eskapismus, sondern auch das Angebot, sich auf ein „Nie wieder“ zu verständigen. Aber dazu braucht es Vertraute, die das Angebot erkennen und den Weg mitgehen. Unter den Opfern seiner zweiten Schuld findet Hans Kaiser diese Vertrauten nicht. Die Straftaten kann er nicht rückgängig und ungeschehen machen, was er nur allzu gerne täte, aber er kann dazu beitragen, dass sie nicht ein weiteres Mal geschehen, nicht durch ihn, sondern durch andere Irregeleitete und Verblendete. Das wäre eine ehrenwerte Aufgabe für einen Holocaustüberlebenden von der Täterseite.
Der Dokumentar-Roman „Am Kornsand“ gibt uns Nachgeborenen zu denken.

 

Klaus Hansen, im April 2023